echtLife Juni 2022

Seite 4 | Juni 2022 | echt Life Mitmischen statt Aufmischen Bürgerbeteiligung kann – wenn sie gut gemacht ist – dazu führen, dass die in der Bevölkerung vorhandene Expertise in politische Entscheidungen einfließt. Sie kann aber auch als Alibi-Instrument missbraucht werden oder überhaupt aus- bleiben: Dann bleibt den Bürgerinnen und Bürgern statt dem Mitmischen nur noch das Aufmischen der Politik in sozia- len Medien und amWirtshaustisch. Bürgerbeteiligung ist in aller Munde: In Deutschfeistritz wurden die Bürger mit einem längeren Fragebogen zur Entwick- lung des Hauptplatzes befragt, in Übel- bach fragte die Gemeinde die Meinung zu Öko-Energien ab, in Gratwein-Straßengel startet ein umfangreiches Beteiligungspro- jekt zur Verbauung der „Huberwiese“ mit rund 200 Wohnungen. Aber was genau ist unter Bürgerbeteiligung eigentlich zu ver- stehen? Musterbeispiel Landeskultur Ein Musterbeispiel eines effizienten Betei- ligungsprozesses liefert aktuell der desig- nierte Landeshauptmann Christoph Drex- ler in seiner Funktion als Kulturlandesrat ab: Er lässt unter dem Titel „Kulturstrategie 2030“ neue kulturpolitische Leitlinien für die Steiermark erarbeiten. Sein Ziel: die Kulturstrategie des Landes neu aufsetzen und dabei die Expertise, die im weiten Feld des kulturellen Schaffens vorhanden ist, mitnehmen und integrieren. Von Septem- ber 2021 bis ins Frühjahr 2022 definierten zwei Vollprofis – Heidrun Primas, bis 2021 Präsidentin des Forum Stadtpark, und Werner Schrempf, Intendant von La Strada – in unzähligen Fachgesprächen fünf große Themenfelder, zu denen in Regionalkonfe- renzen Ideen und Meinungen von über 350 Bürgerinnen und Bürger aus dem Kultur- bereich eingeholt wurden. Beispiel Deutschfeistritz Nachdem Bgm. Viertler schon vor einigen Jahren mit dem Beteiligungsprozess rund um die Neugestaltung des Schulzentrums Wünsche und Fachwissen der vom Projekt Betroffenen nutzte, gab es nun eine Um- frage unter der Bevölkerung, die Futter für die geplante Umgestaltung des Hautplatzes liefern sollte. Das Ergebnis: Bgm. Viertler legte vorher gefasste Pläne zurück in die Schublade und passt nun die Umgestaltung an die Wünsche der Bevölkerung an. Dass sich die Bürgerinnen und Bürger ernstge- nommen fühlen zeigt auch die Beteiligung: 21% Rücklauf sind eine Quote, die durch- aus als Erfolg zu werten ist. Beispiel Übelbach Bgm. Markus Windisch, selbst großer Ver- fechter alternativer Energiegewinnung, setzt bei der Energieraumplanung auf die Mitarbeit der Übelbacher Bevölkerung: Zum einen bat er sie um die Mithilfe bei der Erhebung rudimentärer Energiever- brauchsdaten um abschätzen zu können, welche Anstrengungen die Gemeinde voll- bringen muss, um energieautark zu wer- den. Zum anderen gab es auch hier einen Fragebogen: Wie hoch ist die Akzeptanz von Photovoltaik, Wasserkraft und Win- denergie in der Gemeinde? Die Beteili- gung mit 426 returnierten Fragebögen war hoch, das Ergebnis spannend: 59 % sind für Windkraft, 55 % für Wasserkraft und 69 % für Sonnenenergie. Beispiel Gratwein-Straßengel Gratwein-Straßengel ist die einzige Ge- meinde der Region, die einen eigenen Aus- schuss für Bürger:innenbeteiligung unter Vorsitz von Thomas Frewein betreibt. Ak- tueller Streitfall in der Gemeinde ist die geplante Verbauung eines zentrumsnahen Grundstücks durch die ÖWG und die Ha- ring Group. Hier wurde nun ein durchaus aufwändiger Beteiligungsprozess gestartet. Im Endergebnis ist wohl mit plusminus 200 neuen Wohnungen zu rechnen. Und plötzlich ist Bürgerbeteiligung ein The- ma – sowohl für die Gemeindeführung als auch für die Opposition. Allerdings mit sehr unterschiedlichen Zugängen. Komplexität und Politik Gemeindepolitik leidet durchaus darunter, Lösungen für immer komplexere Fragestel- lungen zu finden. Gerade rund ums Bauen wird alles immer schwieriger. Die Anforde- rungen reichen von der deutlichen Reduk- tion der Flächenversiegelung über Fragen zu Mobilität und Infrastruktur bis hin zur Entwicklung von Wohnformen, die hohe Lebens- und Wohnqualität abseits des Ein- familienhauses ermöglichen. Dafür muss man gewohnte Denkmuster über Bord werfen, Bau- und Planungskultur völlig neu denken. Realistisch betrachtet fehlt es dafür auf Gemeindeebene generell an Kom- petenz: Wir wählen Volksvertreter und kei- ne Experten. Im Regelfall verfügen daher weder gewählte politische Mandatare noch die Verwaltungsmitarbeiter über ausrei- chend Fachwissen, um das Puzzle aus Ar- chitektur, Bauplanung, Mobilitätsplanung, Soziologie, Stadtteilentwicklung und vielen anderen Disziplinen richtig zusammenzu- setzen. Je schwieriger die Aufgabenstellung, desto eher geht es in der Politik nicht um die Sache, sondern um die Schlagzeile, um das Austragen von Schaukämpfen statt um Lösungen. Das Beispiel der „Huberwiese“ zeigt, dass man auch bei der Bürgerbetei- ligung aneinander vorbeireden kann: Die Gemeindeführung, bestehend aus SPÖ und Grünen, hat sich nun mit dem Wohnbau- träger darauf geeinigt, vor Planungsbeginn Kulturlandesrat Christoph Drexler: Kulturstrategie 2030 – die neue kulturpolitische Leitlinien für die Steiermark als Beteiligungsprozesses Fotos: Nikola Milatovic Werbung Andreas Braunendal

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