echtLife April 2023

echt Life | März 2023 | Seite 7 Du hast in einem Interview März 2020 sehr deutlich vor den Folgen der damals sehr frischen Kassenfusion gewarnt. Angekündigte Katastrophen finden in aller Regel nicht statt, wie siehst du die Situation heute? JH: Es ist Vieles von dem, was zu befürchten war, eingetreten. Die ÖGK als Organisation mit circa 13.000 Mitarbeiter:innen österreichweit ist brachial zentral organisiert. Eine Handvoll Entscheidungsträger ist österreichweit für alles zuständig, wir haben keine Entscheidungs- und Verantwortungsträger in den regionalen Strukturen, alles muss an der Spitze entschieden werden. Somit ist das ein unendlich träges System geworden. Aktuell leiden viele Patient:innen darunter, dass Rückerstattungen von Wahlärzten oder physikalischen Instituten bis zu mehreren Monaten auf sich warten lassen. Woran liegt das? JH: Zum einen nimmt die Zahl der Rechnungen aus privatmedizinischen Versorgungen eklatant zu. So wie die Inanspruchnahme medizinischen Leistungen generell im Steigen begriffen ist. Wir versuchen, mit der digitalen Anbindung von Wahlärzt:innen und Therapeut:innen durch die Automatisierung schneller zu werden, aber das dauert. Schneller reagieren könnte man nur mit der Anpassung unserer Personalkapazitäten, aber in der Struktur der ÖGK dauert das Monate. Hauptproblem ist aber sicher das enorm gestiegene Volumen. Wie steht es um den Mangel an Ärzt:innen und der Schwierigkeit, Kassenstellen zu besetzen? JH: Einerseits geht es um die Zahl verfügbarer Ärzt:innen und Pflegekräfte, aber auch darum, dass wir im internationalen Vergleich bei der Zahl der Patienten-Arzt-Kontakte im absoluten Spitzenfeld liegen. Wir haben in Österreich 5,4 Ärzt:innen pro 1000 Einwohner:innen, damit sind wir im OECD-Raum Spitze gemeinsam mit Griechenland. Interessant ist auch ein zeitlicher Vergleich: In den 90ern war von einer Ärzteschwemme die Rede, da hatten wir 20.000 Ärzt:innen im System. Heute, 30 Jahre später, haben wir 47.000 Ärzt:innen im System und nehmen einen Mangel war. Sind wir dann wenigstens gesünder? JH: Nein, leider nicht. Das ist das Erschütternde dabei, dass wir für die Reparaturmedizin im klassischen Sinn 10,4 %b des Bruttosozialprodukts ausgeben, aber trotzdem nachhinken bei den gesunden Lebensjahren. Wir sind deutlich früher chronisch krank als etwa die Bevölkerung in Skandinavien. Die Ursache dafür liegt aber nicht im Versorgungssystem: Wer Mitte 50 und 60 chronisch krank wird, nimmt das System erst ab diesem Zeitpunkt in Anspruch. Das ist eine Lebensstilfrage mit Ernährung, Bewegung, Rauchen, Alkohol, Drogen, Stress etc. Da hilft uns der entspannte Ansatz: „Gesund macht mich ja eh der Doktor“ definitiv nicht weiter. Worin liegt die Ursache begründet, dass wir trotz wesentlich mehr Ärzt:innen einen Mangel wahrnehmen, sowohl in den Spitälern wie auch im niedergelassenen Bereich? JH: Ich sehe zwei Entwicklungen. Zum einen ist es die Spezialisierung der Medizin. Um verschiedene Erkrankungen am Stand der Medizin zu behandeln, brauchte es früher eine/n Mediziner:in, heute sind es mehrere Spezialist:innen. Zum anderen haben wir immer mehr Teilzeitkräfte, auch weil immer mehr Frauen als Ärztinnen aktiv sind, die noch immer zu wenig Kinderbetreuungsangebote haben. Aber auch, weil sehr viele Wahlärzt:innen nicht ganztags verfügbar sind. Wir haben also mehr Ärzt:innen, aber deswegen nicht mehr medizinische Arbeitszeit. Ist die Spezialisierung in der Medizin nicht eine positive Entwicklung? JH: Im Prinzip ja, dennoch zwei kritische Gedanken dazu: Erstens gibt es nicht genug Spezialist:innen, um alle Krankenhäuser mit ihnen zu besetzen. Die bestmögliche Leistung kann es daher nicht in jedem Spital für alle Fachrichtungen geben. Da muss man der Bevölkerung reinen Wein einschenken. Zweitens müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Wann sind welche Behandlungen angemessen und erforderlich. Wir müssen von einer bedürfnisorientierten wieder zu einer bedarfsorientierten Versorgung kommen und das auch ehrlich so sagen. Braucht es also sogenannte Gatekeeper, die entscheiden, wer darf zum Hausarzt, wer zum Facharzt, wer in die Klinik? JH: Ja, da sind wir gedanklich im skandinavischen Modell. In Schweden, das habe ich mir dort selbst angesehen, kommt man mit einem medizinischen Problem, das kein Notfall ist, zu einer diplomierten Fachkraft und nicht zum Arzt. Diese Fachkraft beurteilt, ob man einen Arzt braucht oder ob etwas anderes genügt. Das sind wir in Österreich nicht gewohnt. Aber in diese Richtung wird es gehen müssen, denn die Fülle an Inanspruchnahmen immer gleich am höchsten Versorgungsniveau wird irgendwann nicht mehr leistbar sein wird. Aber das ist graue Theorie, denn wir haben aktuell nicht einmal ausreichend diplomiertes Fachpersonal für so ein System. Im qualifizierten Pflegebereich sind wir quantitativ auch deutlich schlechter aufgestellt als vergleichbare Länder. Ein guter internationaler Mittelwert liegt bei ca. 15 Pflegekräften pro Tausend Einwohner. Wir dümpeln gerade bei ca. 10 pro Tausend herum. Da bin ich schon geneigt von einem Mangel zu sprechen. Wie geht es dem ÖGK-Projekt der Patient:innenmilliarde? Mit einem Höchststand an Beschäftigten müssen doch auch die Einnahmen aus den Sozialversicherungsbeiträgen sprudeln? JH: Wir haben die höchsten Einnahmen aus Sozialversicherungsbeiträgen aller Zeiten in der ÖGK und bilanzieren dennoch mit einem saftigen Minus. Wenn ich zwei, drei Jahre zusammenzähle, sind wir bei der seinerzeit versprochenen Milliarde, aber mit dem falschen Vorzeichen. Die Geschichte mit der Milliarde zählt für mich zu den größeren politischen Lügen der 2. Republik, die bisher ungestraft geblieben sind. Um noch auf unsere Region zu kommen: Gibt es eine Möglichkeit, den Mangel an Kassenstellen für Fachärzt:innen, etwa in der Kinderheilkunde, zu beheben? Immer heißt es, man muss nach Graz, aber die Grazer Ärzte sind schon wegen des Grazer Bevölkerungswachstums so überlastet, dass sie keine neuen Patient:innen mehr annehmen. JH: Unsere Region könnte das vertragen und es gibt auch Initiativen etwas zu tun, bei Kinderärzt:innen ebenso wie in der Dermatologie. Es ist an der Zeit, konkret zu werden. Die Entscheidungsstruktur der ÖGK macht das nicht einfacher, aber ich würde sagen es ist nicht unmöglich und wir haben bei der letzten Ärztekammerverhandlung Ende 2022 doch eine gewisse Anzahl an neuen Kassenstellen vereinbart, die wir schaffen wollen. Unsere Region zählt diesbezüglich zu den Potentialträgern. Danke für das Gespräch! Andreas Braunendal

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