Seite 14 | November 2017 |
echt L i fe
Es ist schon richtig: über Ver-
kehr kann man trefflich streiten.
Allzeit, überall, am Biertisch und
bei Bauverhandlungen. Letz-
tere sind jedoch außer Obligo:
„Verkehrsrecht ist nicht Gegen-
stand des Baurechts“, sagen die
Verhandlungsleiter.
Stimmt,
Verkehrsrecht ist eine eigene
Rechtsmaterie, abgekoppelt vom
Baurecht. Die Wohnsilos können
also unbehelligt wachsen, die In-
frastruktur ist in Graz so etwas,
wie das unbekannte Wesen. Das
beginnt schon beim Verkehrspla-
nungsamt der Stadt. In diesem
gibt es für Bürger nicht einmal
die in den anderen Ämtern übli-
chen Sprechstunden.
Verkehrswege wie von 100 Jahren
So wundert es kaum, dass der
Bezirk heute noch über unver-
änderte
Hauptverkehrs-Adern
verfügt, wie vor hundert Jahren
– bloß asphaltiert, statt der eins-
tigen Makadam-Beschichtung.
Andritzer Reichsstraße, Gra-
zerstraße, Statteggerstraße, Ra-
degunderstraße, St. Veiter- und
Weinitzenstraße – 1998 hatte
Architekt Dieter Angerbauer se-
lig, in einer Bezirksversammlung
Pläne aus dem Jahr 1913 unwis-
senden Stadtplanern gezeigt –
und ihnen diese übergeben. Dort
waren all die genannten Straßen
in unveränderter Form zu heute
vorhanden. Eine Luftbildaufnah-
me aus dem Mai 1935 aus dem
Archiv des Bezirkschronisten
Toni Gran zeigt etwa den Bereich
Reichsstraße/Statteggerstraße.
Im Vergleich mit einer aktuel-
len „google-earth“ Kopie sieht
Andritzer Verkehrs-Chaos
Andritz, der größte Grazer Bezirk, hat heute noch dasselbe Grundverkehrsnetz, wie vor hundert Jahren.
Die Wohnsilos explodieren, die Menschen ersticken im Verkehr. Der „Beton-Lobby“ ist´s wurscht,
denn Verkehrsplanung gibt´s ja keine.
man die Gleichheit der Straßen-
führung seit 82 Jahren deutlich.
Bloß ist heute alles dicht ver-
baut, wo 1935 noch freie Grün-
flächen waren.
Zuzug: 1.589 Einwohner
Andritz wächst weiter. Von Ok-
tober 2007 bis Oktober 2017 ist
die Zahl der Hauptwohnsitze
um 1.589 auf nunmehr 19.178
Einwohner gestiegen. Mit den
Nebenwohnsitzen sind derzeit
20.721 Einwohner gemeldet.
1.543 Nebenwohnsitze weisen
Andritz als El Dorado für Spe-
kulanten-Wohnungen aus. So
rasant es derzeit weitergeht, so
sehr geht die Infrastruktur pro-
portional zurück. Radegunder-
traße – Pfeifferhofweg wurde vor
einem Monat mit dem Bau von
9 Wohnblocks für 126 Wohnun-
gen der ÖWG begonnen. Zeitnah
war die Bauverhandlung für 7
Kohlbacher Wohnblocks Rade-
gunderstraße – Prochaskagasse,
Baubeginn 2018. Wie die Fahr-
zeuge der neuen Bewohner in die
heute schon mehr als überlaste-
te Radegunderstraße einfahren
werden können? Keine Antwort
der Verkehrsplanung!
Bekanntlich gibt es bei uns ähn-
lich viele Verkehrsexperten, wie
Fußball-Teamchefs. Einer von
ihnen kam 2006 als zuständiger
Stadtrat nach Andritz – um an-
stelle über ungelöste Hochwas-
serprobleme von großräumigen
Verkehrskonzepten wie großen
und kleinen Ost-Umfahrungs-
spangen zu reden. Und wegen
bereits damaliger Neubaupläne,
etwa in der Radegunderstraße
sagte dieser Stadtrat Gerhard
Rüsch: „Sie müssen das einmal
verstehen. Die Stadt braucht erst
Mehreinnahmen durch mehr
Einwohner, um damit die Infra-
struktur finanzieren zu können“.
10 Jahre später angesprochen,
sagte der scheidende ÖVP-Stadt-
rat: „Ich kann mich nicht an alles
erinnern. Aber, wo soll man jetzt
eine neue Infrastruktur errich-
ten, wenn alles neu verbaut ist?“
Verkehrspolitik á la Graz, also…
Boxhandschuhe für Bezirksräte
Während die letzten zehn Jah-
re wurden dennoch zwei Ver-
kehrsmaßnahmen gesetzt: Die
Schöckelbach-Brücke Radegun-
derstraße – Weinitzenstraße
wurde verbreitert und für Tonna-
gen-Belastungen schwerster Lkw
ausgebaut. Wenig später dasselbe
mit der Brücke über den Gabri-
achbach, nahe der Auffahrt St.
Veit. Konsequenz: Eine neue
„Transitroute“, insbesondere als
Lkw-Schleichweg zwischen Weiz
und der Kreuzung Wienerstraße
mit Autobahn-Anschluss Grat-
korn-Süd war geschaffen. Ver-
kehrsverdichtung als neue Infra-
struktur?
Aktiv in diesen Fragen ist Be-
zirksvorsteher Johannes Oben-
aus von Nagl´s ÖVP. Jener Par-
tei, die bekanntlich alles für die
vom Bürgermeister geförderte
Baulobby tut, in Sachen Infra-
struktur (Verkehr, Kanalmisere,
Hochwasserschutz etc) jedoch
durch Untätigkeit glänzt. Als
2014 die Geschichte mit den
genannten
Brückenausbauten
zu neuen Verkehrsströmen aus
Weiz in einer Bezirksratssitzung
thematisiert wurde, kam es zu
Schreiduellen zwischen Bezirks-
vorsteher Obenaus und seinen
damaligen Vertreter Zlöbl, gab es
Misstrauensantrags-Drohungen
und Zeitungsberichte, illustriert
mit Boxhandschuhen für die bei-
den Kontrahenten. Damals ver-
kündete Obenaus spontan einen
„Runden Tisch“ mit Vertretern
der Stadt Graz samt nachfolgen-
dem Andritzer Verkehrsgipfel.
Fand bis heute freilich alles nicht
statt. So löst man akute Verkehrs-
probleme.
Graz – die „Firma Planlos“
All diese Fragen, insbesondere
jene, wie es angesichts des enor-
men Bau-Booms weitergehen
soll mit der Verkehrsinfrastruk-
tur versuchten wir zwei Wochen
lang im Grazer Verkehrspla-
nungs-Amt zu hinterfragen.
Amtsleiter Martin Kroißenbrun-
ner und/oder seine Fachleute wa-
ren entweder stets in Sitzungen
oder auswärts – von den mehr-
fach zugesagten Rückrufen er-
folgte kein einziger. Also, wie soll
das gehen, Frau Verkehrs-Stadt-
rätin Elke Kahr? Wie soll der
zusätzliche Verkehr etwa der
beiden genannten neuen Groß-
siedlungen bewältigt werden, wie
sieht die Verkehrsplanung bis
2020 aus? Doch leider … auch
keine Antworten bis Redaktions-
schluss. Keine Antwort ist auch
eine. Eine, die tief blicken lässt –
in die Erkenntnis, dass die Stadt
Graz tatsächlich planlos ist.
Der Bereich Andritzer Reichsstraße/Statteggerstraße vor 82 Jahren ...
... und heute: Die Hauptverkehrsadern sind völlig gleich geblieben!
google earth
Foto: Archiv Toni Gran
Erich
Cagran
Foto: googl earth